Archiv

Schlagwort-Archive: artistic research

Nach einem langen Recherchesommer durch niedersächsische Fleischgefilde entstand im Rahmen der FREISCHWIMMEN-Residenz am Theater Rampe die konkrete Vision und Dramaturgie für unsere interaktive Fest-Aufführung FLEISCH. Aus unzähligen Stunden Audiomaterial von Gesprächen mit Schweinebauern, Fleischarbeiter*innen, Zukunftsforschenden oder Grillmeistern sammelten wir unsere Perlen und zentralen Fragestellungen zusammen um sie auf der Probebühne auszubreiten und aus ihnen schlau zu werden. 

“Fleischfragen sind Beziehungsfragen!” / War Prometheus eigentlich der erste Grillmeister, als er den Menschen das Feuer brachte? / Klee ist das neue Beef des starken Mannes! / “Es ist das Schicksal des Menschen, das er von getöteten Seelen lebt.” 

Bei einem Teamausflug ins Fleischermuseum in Böblingen spielten wir leider kein Wurstaufschnitt-Memory, sprachen dafür aber viel mit Museumsleiter Christian Baudisch, zum Beispiel über den Humor, den es braucht, um verschiedene Meinungen zu einem polarisierenden Thema wie FLEISCH zu versammeln; im weltgrößten Schweinemuseum wühlten wir uns durch mehrere Etagen Schweinewelten, um danach Käsespätzle im ehemaligen Schlachthof zu essen, an einem sinnlichen Grill-Nachmittag versuchten wir uns selbst im Wursten, kochten vegane Blutsuppe, übten einen Schlacht-Fest-Kanon und entwickelten Strategien für den Umgang mit den Interview-Audios. Zwei intensive und produktive FLEISCH-Wochen sind zu Ende, danke an das Theater Rampe und bis bald! 

Das Fleischermuseum in Böblingen

On Thursday evening, Wanja Saatkamp invited the congress to participate in a collective cooking and eating experience, prepared by two of our guests: the social anthropologist Sebastian Schellhaas from Frankfurt/Main and the writer Yemisi Ogbe from Lagos, Nigeria. Wanja has been working artistically with the format of meals for some time, creating a mixture of debate club, cooking show, restaurant and informal gathering. She presented the format as Vagabundenküche in Summer 2014 during the infamous Vagabundenkongress at Theater Rampe.

This time Wanja was rushing in to prepare a dinner-debate with two food experts from very different cultural backgrounds: Sebastian Schellhaas is a scientist who has specialized in cultures of food and consumption who used to conduct research in Africa for some time and has recently devoted his studies to the first nations in British Columbia, Canada. He is looking at myth and reality of the potlatch, an almost mystical cultural phenomenon, popularized by anthropologists like Marcell Maus and Franz Boas. It’s images of savage tribes offering absurdly big meals and hurling whole wagon loads of food into the deep waters of the bay just to out-spend a rivaling tribe or king that have dominated the debate about the potlatch – for the most part a misleading impression, as Sebastian claims. However I could not help thinking about Sebastian’s accounts while looking at the huge Mövenpick buffet offered to the Hunger-researchers at the conference hotel. A buffet that was presumably downsized to match the occasion…

The other host and cook was Yemisi Ogbe. Yemisi for years has written and blogged about Nigerian food. I had read a piece by her about fish soup and eroticism in Nigeria a while ago. And it was just that dish, fish soup, she offered to us. The interesting twist was this: Yemisi claimed that a woman offering fish soup to a man is as clear a sign for erotic intentions as – say – asking your date to come upstairs for one last coffee after a night out. Maybe more obvious, I don’t know. It astonishes me that a certain dish can carry such clear signs. I imagine a whole language made up of dishes, every ingredient a syllable, every course an argument, every spice an exclamation mark… So offering to make fish soup for this dinner seemed to me a beautiful gesture of admiration and sympathy to us. But we had to participate in the creation, chop the Okra and the tomatoes and so on. So it was not just a gift of sympathy from her to us, but it made us treat ourselves with some love. To extend love to the group, but also ourselves and each person individually. The act of preparing and giving food is an essential cultural and deeply emotional practice. Yemisi has written a piece for the conference about how giving food to your children as a mother is not only an act of love but also a complicated net of familial inheritances, care, guilt and knowledge.

Sebastian for his part suggested a dish, that was illustrating his thesis about what actually accounts as food. He prepared a typical rural and basic German dish: boiled potatoes, fried eggs and spinach. But it was prepared as a casserole and baked in the oven. The same ingredients but a very different effect, look and feel. Was this the familiar childhood dish or something totally different? Sebastian told two stories how during his field trips to central Africa he encountered the phenomenon, that people would not necessarily consider a certain dish – in his case a pizza – “food”, if it didn’t fulfill certain cultural expectations. What is food and what not, what is edible and what to be despised, depends on a whole array of factors, social, cultural as well as nutritional.

Wanja created out of all these ingredients an admirable atmospheric event in a former wine store in the building of Theater Rampe. A celebration of eating and talking food, sociability and care for one another. It’s intimacy was of course due to the small number of people who joined, but in many respects it was also an offer for an alternative approach to the sterile, nervous, fast paced, functional feel of the Conference.

Am Donnerstag, den 18.12.,ab 19:00, findet das Finale von BOUVARD & PECUCHET 3000 statt. Auf Einladung von Adrianna Liedtke und Felix Enssslin zeigen sieben verschiedene Künstler, Künstlerpaare Arbeiten rund um die Themen Wissen, Erben, Sex. Die Präsentationen sind in einem 3-dimensionalen temporären Glossar angeordnet, ein performatives Verzeichnis zum Liebes-Kapitel bei Flaubert und zu zehn Kapiteln künstlerischer Forschung am Theater Rampe.

 

 

Mit:

Leonora Ruchay

studiert an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste, Stuttgart seit 2007 Freie Kunst und ist dort seit kurzem Mitglied der Klasse Ricarda Rogan. Neben Fotographie und Video arbeitet die Künstlerin mit durch Recherche und Interviews generierten ebenso wie mit selbstverfassten Texten. Neben zahlreichen Beteiligungen an Gruppenausstellungen und –projekten zeigte sie ihre Arbeiten u.a. in der Soloausstellung „9to5 or 24h“ im Sudhaus, Tübingen, 2013.

 

Eve Kolb

studierte Schauspiel an der HfS Ernst Busch in Berlin, arbeitete u.a. in Weimar, Köln und Göttingen, lebt als freie Schauspielerin seit einigen Jahren wieder in Berlin  und ist dort an der Humboldtuniversität für den Studiengang Psychologie eingeschrieben und überbrückt kunstfreie Phasen in der Gastronomie.

 

Leon Filter und Florian Clewe

sind bildende Künstler und leben und arbeiten in Brüssel und Berlin. In ihrer gemeinsamen und individuellen künstlerischen Praxis arbeiten sie sich durch unterschiedliche Felder der Kultur und des Wissens, so etwa durch die historische Kulturtechnik des Bäumebiegens und die Geschichte der Flüssigkristallforschung. Dabei untersuchen sie die Spannungsverhältnisse, die aus der Migration der angeeigneten Bilder, Praktiken und Problemhorizonte in die Produktion künstlerischer Formen und Selbstentwürfe hervorgehen.

 

Oana Vainer

Geboren 1980 in Bukarest. Studium an der Universität der Bildenden Künste in Bukarest. Anschließend Studium an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart und Tallinn. Trägerin des Akademiepreises der Bildenden Künste in Stuttgart und des DAAD Preises. Im Jahr 2014 Stipendiatin an der Cité Internationale de Paris. Oana Vainers neuere Arbeiten setzen sich mit den persönlichen, sozialen und gesellschaftlichen Realitäten einer de facto lediglich vertraglichen und währungspolitischen Europäischen Union auseinander. Arbeitsutensilien sind bei Oana Vainer Gegenstände, die eine gemeinsame Vergangenheit ausweisen, Videos oder auch der eigene Körper. Dabei verwendet sie bestehende Inhalte als Restriktion und verändert diese in mehreren Transformationsprozessen in eine neue Realität. Klischees werden nicht negiert sondern ad absurdum geführt.

 

Raphael Sbrzesny

studierte Klassisches Schlagzeug, Neue Musik und Kammermusik in Stuttgart und Paris, Experimentelles Musiktheater und Komposition in Bern, und Bildende Kunst in Stuttgart und München. Er erhielt zahlreiche Stipendien und Preise, zuletzt das Landesgraduiertenstipendium sowie ein Bundesatelier in der Cite International des Art Paris. Derzeit arbeitet er an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart zusammen mit Felix Ensslin an einem künstlerisch-wissenschaftlichen Forschungsvorhaben mit dem Titel: ‚Das Material des Anderen im Eigenen – Übungen zu einer Ästhetik der Interpretation’. Dabei versucht er Begriffe wie Repertoire, Fingerübung und der Interpret für einen Figurenentwurf zu diskutieren, welcher Möglichkeitsräume für eine künstlerische Produktion jenseits eines ständigen Aktualisierens bestehender Ordnungen markiert.

 

Das letzte Kapitel der Forschungsresidencyreihe BOUVARD & PECUCHET 3000 begann am 4. Dezember mit dem Einzug von Adrianna Liedtke und Felix Ensslin – beide Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Bis zum 18.12. sind die beiden mit Unterstützung diverser KünstlerkollegInnen im Labor im Theater Rampe.

Freitag den 12., Samstag den 13., Mittwoch den 18. und Donnerstag den 19. gibt es ab 18:00 Uhr öffentliche Präsentationen im Labor.

Außerdem veranstaltet Felix Ensslin seine beiden wöchentlichen Seminare Dienstags und Mittwochs im Weinladen unter dem Theater; am 17. 12. von 13:30 – 16:00 Uhr und am 18. 12. von 10 – 12:30 Uhr.

 

Das Projekt B&P 3000 begann unter anderem mit einer Beschäftigung mit der Rolle des Buches im 21. Jahrhundert. Flauberts unvollendetes Projekt „Bouvard et Pecuchet“ war das Projekt eines ganz neuen Typus von Buch, von etwas, das in seinen Inhalten und seiner narrativen Struktur eher dem Hypertext und dem Internet ähnelt, als dem Buch.

Ist der erste Band noch klassisch in dem Sinne, dass immerhin der Text sozusagen auktorial ist, sollte ja der zweite Band copy/paste werden, zumindest in großen Teilen. Aber das betrifft nur die Autorenschaft, die Herkunft der Textpassagen. Die narrative Struktur ist zwar vordergründig linear – Handlungsmuster setzen sich fort, werden wieder aufgegriffen und weiterentwickelt, die Figuren entwickeln sich (mehr oder weniger kausal) weiter – aber eigentlich ist jedes Kapitel eine in sich geschlossene, und danach abgeschlossene Auseinandersetzung mit einem Thema. Man kann das Buch überall aufschlagen, oder man kann es wie ein Lexikon benutzen, also zB. das Kapitel über Archäologie durchblättern, wenn man etwas über Archäologie wissen will. Wie das im zweiten Band ausgesehen hätte, ist fraglich, da es davon nur Notizen gibt. Vermutlich aber ähnlich enzyklopädisch.

Alles zu verwenden, alles gleichwertig anzuordnen, die Figuren alles nur kurz aufgreifen und dann wieder fallen lassen zu lassen, damit den Leser ebenfalls zum Flaneur zu machen – das ist wenn man so will das moderne oder zeitgenössische des Romans. Es entspricht vielleicht unserer Art, Information über das Internet zu selektieren, zu konsumieren und zu verarbeiten.

Foucault schrieb  über Flauberts Roman die Versuchungen des heiligen Antonoíus, „die Imagination sein ein Bibliotheksphänomen.“ Also eigentlich eben keine Imagination, sondern eine Reproduktion oder Rekreation. Recreationism ist ein Schlagwort auch in aktuellen kulturwissenschaftlichen Debatten. So fortschrittlich Flaubert also war, so sehr ist seine Kreativität doch durch das Medium Buch gebunden (!). Das Buch, das man zwar überall aufschlagen kann, ordnet die Seiten nur auf eine mögliche Weise an. Und die Seiten sind ganz klar linear aufgebaut. Das Buch ist also linear, selbst wenn es erlaubt, zu springen. Man kann sich nicht auf zwei Seiten gleichzeitig befinden, zwei Seiten nebeneinander legen. Es ist eben kein Hypertext. Es gibt zwar Bücher, die über „Verlinkungen“ funktionieren, zum Beispiel die Fantasy-Spielbücher, die in den 90ern mal populär waren. Aber das gibt es bei Flaubert noch nicht.

Was es aber gibt, sind Verknüpfungen, die immer wieder ein Kapitel mit einem anderen verbinden. Das sind häufig wiederkehrende Handlungsmuster oder Figuren, zB. Madame Bordin, die plötzlich auftauchen und eine Art Tunnel zu einem anderen Kapitel öffnen. (Ohne dass es, vermute ich, viel Sinn machen würde, dort weiterzulesen.) Der Text ist also einerseits linear – B&P arbeiten sich durch ein Wissensgebiet nach dem anderen, bauen währenddessen ihre Landwirtschaft auf und ab usw. -, er ist unzusammenhängend episodisch – der Großteil der Handlung in einem Kapitel ist für den Rest des Romans komplett egal, mit jedem Forschungsgebiet fängt die Binnenhandlung wieder bei Null an – und er ist in sich auf mehreren Ebenen verschränkt oder vernetzt – eben über diese Tunnel.

th

Das Buch als Thema und Motiv tauchte in den vergangenen Monaten immer mal wieder auf, vor allem natürlich bei David Weber-Krebs und Marcell Mars (Kapitel 5). In dem Film „Interstellar“, den mir Oliver Schmaering für das 9. Kapitel empfohlen hat, taucht das Buch auch an prominenter Stelle auf. Über Bücher, die aus dem Bücherregal fallen, kommuniziert im Film der Vater aus der Zukunft mit seiner Tochter. Das Buch ist also der Schlüssel oder die Verbindung zwischen den Realitäten und Zeiten. Das ist hier vermutlich vor allem eine kulturkonservative Idee vom Buch als Wissensspeicher und Symbol allen Geistigem. Das Bücherregal wird dabei sehr pathetisch in Szene gesetzt. Dabei ist interessant, dass die Bücher selbst uninteressant scheinen, nicht mal ihre Titel werden gezeigt oder genannt. Nur die Anordnung, in der die Bände aus dem Regal fallen transportiert eine Information, nicht etwa, welches Buch oder welcher Autor.

Ich vermute, dass die Buchmetapher eben doch nicht so viel hergibt, weswegen sie so halbherzig benutzt wird. Die Buchlogik – die ja die lineare Textlogik ist – hat über Jahrtausende unsere Kultur und unser Denken geprägt. Friedrich Kittler würde vermutlich sagen, wer sein Wissen aus Büchern hat, der kann nur Dinge wissen, die wie Bücher funktionieren. Sprich: Eindimensional, linear. Das Buch ist die eindimensionale Denkmaschine schlechthin. Das Denken, das die Quantentheorie erfordert, ist aber gerade nicht das Denken, das das Buch als Kulturtechnik abfragt. Parallelitäten oder Gleichzeitigkeiten sind eben gerade nicht mit der Buchlogik vereinbar. Der Hypertext wäre es schon eher, würde ich denken. Trotzdem wird die Hyperrealität im Film als Verschachtelung von Bibliothekswänden inszeniert!

Sam-NeillWir wissen nicht, ob Flaubert vom Hypertext geträumt hat. Das schöne Modell für das Wurmloch, bei dem man ein Blatt Papier umbiegt und dann mit einem Bleistift die gebogenen Enden durchsticht, um zu zeigen, wie man mit dem Wurmloch von einer Realität in die andere gelangt, ist auch ein Bild für den Hypertext. Der Stift ist der Link. Und es ist vielleicht auch ein Bild für die Sehnsucht nach der Überwindung des linearen Textes und damit auch des Buches. Es benutzt ja nicht zufällig ein Blatt Papier und einen Stift…

 

 

 

JP