Das Projekt B&P 3000 begann unter anderem mit einer Beschäftigung mit der Rolle des Buches im 21. Jahrhundert. Flauberts unvollendetes Projekt „Bouvard et Pecuchet“ war das Projekt eines ganz neuen Typus von Buch, von etwas, das in seinen Inhalten und seiner narrativen Struktur eher dem Hypertext und dem Internet ähnelt, als dem Buch.
Ist der erste Band noch klassisch in dem Sinne, dass immerhin der Text sozusagen auktorial ist, sollte ja der zweite Band copy/paste werden, zumindest in großen Teilen. Aber das betrifft nur die Autorenschaft, die Herkunft der Textpassagen. Die narrative Struktur ist zwar vordergründig linear – Handlungsmuster setzen sich fort, werden wieder aufgegriffen und weiterentwickelt, die Figuren entwickeln sich (mehr oder weniger kausal) weiter – aber eigentlich ist jedes Kapitel eine in sich geschlossene, und danach abgeschlossene Auseinandersetzung mit einem Thema. Man kann das Buch überall aufschlagen, oder man kann es wie ein Lexikon benutzen, also zB. das Kapitel über Archäologie durchblättern, wenn man etwas über Archäologie wissen will. Wie das im zweiten Band ausgesehen hätte, ist fraglich, da es davon nur Notizen gibt. Vermutlich aber ähnlich enzyklopädisch.
Alles zu verwenden, alles gleichwertig anzuordnen, die Figuren alles nur kurz aufgreifen und dann wieder fallen lassen zu lassen, damit den Leser ebenfalls zum Flaneur zu machen – das ist wenn man so will das moderne oder zeitgenössische des Romans. Es entspricht vielleicht unserer Art, Information über das Internet zu selektieren, zu konsumieren und zu verarbeiten.
Foucault schrieb über Flauberts Roman die Versuchungen des heiligen Antonoíus, „die Imagination sein ein Bibliotheksphänomen.“ Also eigentlich eben keine Imagination, sondern eine Reproduktion oder Rekreation. Recreationism ist ein Schlagwort auch in aktuellen kulturwissenschaftlichen Debatten. So fortschrittlich Flaubert also war, so sehr ist seine Kreativität doch durch das Medium Buch gebunden (!). Das Buch, das man zwar überall aufschlagen kann, ordnet die Seiten nur auf eine mögliche Weise an. Und die Seiten sind ganz klar linear aufgebaut. Das Buch ist also linear, selbst wenn es erlaubt, zu springen. Man kann sich nicht auf zwei Seiten gleichzeitig befinden, zwei Seiten nebeneinander legen. Es ist eben kein Hypertext. Es gibt zwar Bücher, die über „Verlinkungen“ funktionieren, zum Beispiel die Fantasy-Spielbücher, die in den 90ern mal populär waren. Aber das gibt es bei Flaubert noch nicht.
Was es aber gibt, sind Verknüpfungen, die immer wieder ein Kapitel mit einem anderen verbinden. Das sind häufig wiederkehrende Handlungsmuster oder Figuren, zB. Madame Bordin, die plötzlich auftauchen und eine Art Tunnel zu einem anderen Kapitel öffnen. (Ohne dass es, vermute ich, viel Sinn machen würde, dort weiterzulesen.) Der Text ist also einerseits linear – B&P arbeiten sich durch ein Wissensgebiet nach dem anderen, bauen währenddessen ihre Landwirtschaft auf und ab usw. -, er ist unzusammenhängend episodisch – der Großteil der Handlung in einem Kapitel ist für den Rest des Romans komplett egal, mit jedem Forschungsgebiet fängt die Binnenhandlung wieder bei Null an – und er ist in sich auf mehreren Ebenen verschränkt oder vernetzt – eben über diese Tunnel.

Das Buch als Thema und Motiv tauchte in den vergangenen Monaten immer mal wieder auf, vor allem natürlich bei David Weber-Krebs und Marcell Mars (Kapitel 5). In dem Film „Interstellar“, den mir Oliver Schmaering für das 9. Kapitel empfohlen hat, taucht das Buch auch an prominenter Stelle auf. Über Bücher, die aus dem Bücherregal fallen, kommuniziert im Film der Vater aus der Zukunft mit seiner Tochter. Das Buch ist also der Schlüssel oder die Verbindung zwischen den Realitäten und Zeiten. Das ist hier vermutlich vor allem eine kulturkonservative Idee vom Buch als Wissensspeicher und Symbol allen Geistigem. Das Bücherregal wird dabei sehr pathetisch in Szene gesetzt. Dabei ist interessant, dass die Bücher selbst uninteressant scheinen, nicht mal ihre Titel werden gezeigt oder genannt. Nur die Anordnung, in der die Bände aus dem Regal fallen transportiert eine Information, nicht etwa, welches Buch oder welcher Autor.
Ich vermute, dass die Buchmetapher eben doch nicht so viel hergibt, weswegen sie so halbherzig benutzt wird. Die Buchlogik – die ja die lineare Textlogik ist – hat über Jahrtausende unsere Kultur und unser Denken geprägt. Friedrich Kittler würde vermutlich sagen, wer sein Wissen aus Büchern hat, der kann nur Dinge wissen, die wie Bücher funktionieren. Sprich: Eindimensional, linear. Das Buch ist die eindimensionale Denkmaschine schlechthin. Das Denken, das die Quantentheorie erfordert, ist aber gerade nicht das Denken, das das Buch als Kulturtechnik abfragt. Parallelitäten oder Gleichzeitigkeiten sind eben gerade nicht mit der Buchlogik vereinbar. Der Hypertext wäre es schon eher, würde ich denken. Trotzdem wird die Hyperrealität im Film als Verschachtelung von Bibliothekswänden inszeniert!
Wir wissen nicht, ob Flaubert vom Hypertext geträumt hat. Das schöne Modell für das Wurmloch, bei dem man ein Blatt Papier umbiegt und dann mit einem Bleistift die gebogenen Enden durchsticht, um zu zeigen, wie man mit dem Wurmloch von einer Realität in die andere gelangt, ist auch ein Bild für den Hypertext. Der Stift ist der Link. Und es ist vielleicht auch ein Bild für die Sehnsucht nach der Überwindung des linearen Textes und damit auch des Buches. Es benutzt ja nicht zufällig ein Blatt Papier und einen Stift…
JP