Dieses Gespräch zwischen Andreas Liebmann, HK Biesalski und mir führten wir eine Woche nach dem Abschluss der gemeinsamen Residency im Theater Rampe.
Politisch werden
JP Possmann Jetzt wäre die Gelegenheit, ein Resümee zu ziehen. Ich würde es aber gerne ein bisschen anders machen, weil uns bei den beiden Abschlussveranstaltungen aufgefallen ist, dass das Thema der Politik eines ist, das für Sie, Herr Biesalski, ein zentrales ist, dass wir aber in den drei Wochen davor nicht so richtig aufgegriffen haben. Andreas, Du hast es ja dann gemacht durch das Containern und dann war es dadurch an den Abenden ein Thema, durch die Frage der Verschwendung. Deswegen schlage ich vor, wir reden noch Mal über Politik und die Frage, wie man sich da einmischt. Das ist vielleicht interessanter als nur zu fragen, wie die es so für Euch war…
HK Biesalski Ich kann genau sagen, wie es für mich war. Für mich war’s die große Überraschung. Ich meine, das ist nun Mal dein Job, Andreas, und deine Kompetenz und ich hab davon zu wenig Ahnung. Aber dass das nachher wirklich ein Konzept war, also der Abschluss wirklich stimmig war…
Die zweite Überraschung war, auf welch unterschiedliche Weise das Publikum am Samstag und am Sonntag reagiert hat. Das Publikum am Sonntag war eine Generation früher. Die haben klassischerweise alle gesagt: „Essen wirft man nicht weg. Wir nehmen das mit.“ Die sind noch groß geworden so wie ich auch: „Essen wirft man nicht weg.“ Das wäre auch meine Haltung. Dann war es interessant, dass eine Besucherin (Cecilie Schmidt) gesagt hat, sie habe gar keinen Bezug mehr zu den Lebensmitteln, die da auf dem Tisch liegen.
Andreas Liebmann Weil es in diesen Kunstrahmen eingefügt ist.
HB Ja. Und entsprechend haben die auch damit gebastelt.
Und das andere, was ganz typisch war, war die junge Frau mit ihrer Bakterienangst. Die schmeißt freiwillig viel weg aus Angst vor Bakterien.
JP Ich habe ja die Vermutung, dass das eigentlich eine Angst vor den anderen ist. Also eine soziale Angst und nicht eine biologische. Die Keime verbinden wir doch damit, dass da andere Leute ihre Hände drauf hatten. Ich weiß gar nicht, ob’s da um die Biologie geht.
AL Ich glaube, das ist sehr diffus.
JP Bei sich zuhause würde man viel mehr durchgehen lassen.
HB Nun ist es ja so: Nichts erreicht uns mehr als Nahrung. Wir assimilieren die. Und wie viel Assimilation findet statt bei einer Nahrung, die als Kunst ausgestellt ist? Läuft uns da das Wasser im Mund zusammen?
Da kann man noch anmerken, dass bei Lebensmitteln, die farbig dargestellt sind, die Abbildung beim Betrachter Appetit erzeugt. Wenn man die gleiche Nahrung schwarz-weiß darstellt, passiert das nicht. Dann ist das Ornament. Bei Menschen mit Essstörung sind diese Mechanismen übrigens ausgeschaltet. Menschen mit Essstörung nehmen Lebensmittel so war, als wären sie schwarz-weiß.
JP Herr Biesalski, sie haben gesagt, dass die Ernährungswissenschaften eigentlich die falschen Sachen untersuchen. Und die Themen, die Sie sich suchen, sind Themen, die von existentieller politischer Bedeutung sind. Hat sich das im Laufe ihrer Arbeit so entwickelt, oder hatten Sie diese Position schon immer.
HB Das hat sich eigentlich so entwickelt. Ich zitiere immer gerne einen Kollegen, der mal zu mir gesagt hat: „Ich bin Wissenschaftler, ich entwickle etwas. Umsetzen müssen es die anderen.“ Das hat für mich eigentlich keinen Sinn gemacht. Etwas in den luftleeren Raum zu entwickeln. Jetzt im Speziellen bei Hidden Hunger oder bei gentechnisch veränderten Lebensmitteln. Da kann ich nicht einfach sagen, ich stell Euch das Ergebnis hin, und ob das funktioniert, interessiert mich nicht. Das geht heute nicht mehr.
Es ging in einer Zeit, in der die Informationswege aus Postkutsche und Brief bestanden. Da ging es oft nicht anders, man druckte etwas und andere setzten es später um. Nehmen sie Darwin. Er hat seine Zebrafinken untersucht, ist da aber nicht stehen geblieben, sondern hat eine Theorie entwickelt, die er gar nicht anwenden konnte, die aber andere dann anwenden konnten.
JP Gerade Darwin hat ja lange gezögert seine Theorie zu veröffentlichen, weil er wusste, dass der soziale und kulturelle Impakt extrem sein würde.
HB Die Kirche hat ihn ja bekriegt vom ersten Tag an. Damit war er ein politischer Mensch. Das ging damals noch.
Aber wenn man sich heute überlegt: Wer will sich schon gerne einem Shit-Storm aussetzen? Deswegen geben eine ganze Reihe von Kollegen keine Interviews.
Es gibt Dinge unter Intellektuellen, die fasst man nicht an.
AL Das ist interessant. Wenn man mal an die fürchterliche Abstimmung gegen die Masseneinwanderung in der Schweiz gestern denkt – kaum ein Wissenschaftler an den Universitäten in der Schweiz hat sich getraut, was dagegen zu sagen. Das finde ich wirklich tragisch, dass Leute, die gewisse Zusammenhänge durchdrungen haben, sich nicht trauen, sich öffentlich zu äußern.
HB Weil man in einer medialen Gesellschaft ja nicht damit rechnen kann, richtig wiedergegeben zu werden.
JP Gibt es Situationen, in denen man sagen muss, es macht überhaupt keinen Sinn hier als Stimme der Vernunft aufzutreten, zum Beispiel, weil sie so emotional aufgeladen sind?
HB Es gibt auch Dinge unter Intellektuellen, die fasst man nicht an. Man beschäftigt sich sowieso nur mit dem, wo man kompetent ist. Vor diesem Hintergrund sind viele nicht bereit, sich zu Themen zu äußern. Ich sag jetzt mal was Böses: Ich kenne eine Menge Naturwissenschaftler, die hervorragend in ihrem Fach sind aber ansonsten erschreckend ungebildet. Der Leiter eines riesen Instituts für Chemie, hat zuhause in seinem Bücherregal zehn Bücher stehn, das sind die letzten zehn Fußballweltmeisterschaften. Sonst nichts.
JP Ich würde aber sagen, wer sich weniger äußert sind die Künstler, wogegen Wissenschaftler momentan überall auftauchen. Jedes politische Problem wird ja mit einer Studie belegt.
HB Und auch widerlegt….
AL Das war gestern, beim Einzug der nächsten Gruppe, interessant. Die beiden Künstlerinnen (Horrwitz, Hess) haben eine Untersuchung gemacht, mit Frage-Antwort. Sehr subtil für Leute, die da nicht wirklich genau hingucken wollen. Und die große Show hat der Professor (Sonnabend) gemacht. Ich habe das bei uns ja spaßhaft so formuliert: Der Künstler fragt und der Professor antwortet. Und das ist wirklich ein Problem.
JP Würdest du sagen, es ist ein Versäumnis der Kulturszene, dass sie sich nicht mutiger einmischt, oder geht das momentan nicht anders?
AL Ich glaube auf jeden Fall, dass es schwieriger geworden ist, weil man die ganze Dekonstruktion verinnerlicht hat und alles von hundert Seiten ansieht. Aber man kann nicht dabei stehenbleiben. Ich finde die Kunst muss wieder dahin kommen, sich zu äußern. In der Schweiz jedenfalls empfinde ich das als einen extremen Mangel, dass die Künstler es nicht schaffen, sich zu äußern.
HB Ich sehe das völlig anders, und zwar aus der Perspektive meines Fachs heraus. Die Wissenschaftler werden nicht gefragt, weil sie nicht populistisch genug antworten und weil sie nicht polarisieren. Das sehe ich bei der Kunst ähnlich. Was will Herr Lanz, was will Frau Will mit einem Intellektuellen? Gar nichts. Das heißt, die lädt sich zum Thema Ernährung jemanden ein, der dem Volk nach dem Maul schwätzt, so muss man es sagen. Mir hat eine Sprecherin der ARD mal ganz direkt gesagt: Du bist einfach nicht sexy fürs Fernsehen. Du kannst wunderbar erklären, aber das will der Verbraucher nicht hören.
Provokation als Strategie
HB Und dann gibt es die andere Truppe, die immer wieder gern genommen wird, das sind die Gurus, angeführt von Helmut Schmidt.
JP Die weisen alten Männer.
HB Man muss sich intellektuell ansonsten auf einem Level bewegen, dass das Mc-Donalds-Proletariat, wie der Kabarettist Georg Schramm es nennt, versteht. Vielleicht nicht teilt aber immerhin versteht.
JP Aber das hilft uns ja nicht weiter. Wie finden wir zu einer Sprache, die mit der Situation trotzdem umgeht, mit der man sich verständlich machen kann?
AL Ich hab meine Mentalitätsdiagnosen ja so angelegt, dass es raus geht auf die Straße und ich dort gucke, was passiert mit Leuten, die nie ins Theater gehen würden. Man bewegt sich ja in einem sehr kleinen Zirkel, in der freien Szene noch viel mehr. Wenn ich dagegen rausgehe aus dem Theaterkontext, spreche ich mit Leuten, die überhaupt nie auf die Idee kämen, mit einem Fremden zu sprechen. Das ist super, aber das sind so Mini-Injektionen. Das ist vielleicht ein politischer Ansatz, aber man kann nicht sagen, dass ich mich da politisch äußere. Ich kann mich da verständlich machen, das kann ich auf jeden Fall. Ich würde mir aber wünschen, dass das einen anderen Radius kriegt.
Es ist auch ein Problem der Künstler, dass sie gerne differenziert sind…
HB Weil sie nicht provozieren. Das gilt ja auch für Wissenschaftler. Verstehen ist eine Sache, Wahrnehmen eine völlig andere. Wenn ich ein Problem verstehe, kann ich es ablegen irgendwohin und das war’s. Die Frage für mich ist, gibt es wirklich Wissenschaftler, die provozieren? Es gibt einige, aber deren Aufgabe ist genau das. Etwa Herr Falter in Mainz, oder der Burghoff, wenn es um Finanzen geht.
Das heißt, wie kann man politisch agieren vor einer amorphen Masse, die sich das als Fernsehshow ansieht und danach umschaltet?
JP Kann man das seriös tun, provozieren?
HB Das macht man halt in der Wissenschaft meist nur einmal. Denn dann wird man in der Wissenschaft nicht mehr ernst genommen.
AL Aber Du gehst ja stattdessen ins Handeln. Du machst Projekte die eine explizite gesellschaftliche Intention haben. Du gehst nach Nepal und machst da Entwicklungsprojekte. Das heißt, dein politischer Ansatz ist einer, der übers Handeln geht und nicht übers Äußern.
HB Naja als ich dieses Buch geschrieben habe, Hidden Hunger, da hatte ich die Idee einen Kongress dazu zu machen. Da hatte ich lange schlaflose Nächste, weil keiner die Kosten übernehmen wollte. Es hat dann ja doch hingehauen.
Beim Handeln muss man halt manchmal aus der Hüfte schießen. Das ist was, was ich nach Meinung einiger Kollegen viel zu oft mache.
JP Nehmen wir mal dein Buch Hidden Hunger, mit welcher Intention und welcher Lesergruppe im Kopf wurde das geschrieben?
HB Zum einen weil ich selbst an dem Thema zu der Zeit gearbeitet hatte. Und zum anderen, weil dieses Problem verdrängt wird, obwohl daran Hunderttausende von Kindern sterben. Das Buch selbst, ich weiß gar nicht wie viele Exemplare davon verkauft wurden, ist halt doch eher was für Fachleute. Wenn ich gewollt hätte, das das Buch einschlägt, dann hätte ich es aufbauen müssen wie das Buch von Sarrazin. „Der Bauer unser Totengräber“ Aber das widerstrebt mir als Wissenschaftler.
JP Ja aber was ist nun die Alternative? Das kommt ja für Euch beide nicht in Frage.
AL Ich hab eigentlich stattdessen immer versucht im Kleinen zu arbeiten. Mich auf die Themen zu konzentrieren, und einzulassen. Da ist das Theater für mich ein Vehikel um an andere Menschen ‚ranzukommen. Es gibt auch Theater die sehr stark soziokulturell arbeiten, das ist durchaus ein politischer Ansatz. Freiburg hat sich ja ein komplettes zweites Ensemble aus Laien aufgebaut. Und ich finde, das ist auch politische Arbeit.
Wenn man keinen Zugriff auf die Medien oder auf diese Rhetorik des Skandals hat, dann muss man gucken, was direkt um einen herum los ist. Matthias Lilienthal hat mal gesagt, die erste Frage, die man sich stellen muss, wenn man ein Theater aufmacht, ist: wo liegt es? Was ist da drumherum? Wer lebt da?
Das ist eine Kultur, die vielleicht nicht super spezialisiert oder interessant ist, aber die die Menschen vor Ort zusammen und zu einer Auseinandersetzung bringt. Du (Biesalski) sagst ja auch, das Hochspezialisierte ist möglicherweise aufregend, aber es ist dann nur für die 20 Leute interessant, die das Geld investieren.
Wie das Eichhörnchen pinkelt – Zweckfreiheit und Geschäftsmodelle
JP Das gilt ja für die Wissenschaft wie für die Kunst: Wer bestimmt die Themen? Du machst ja Antragskunst, wie Veit Sprenger das nennt, musst also immer vorher legitimieren, was Du machen willst.
AL Das Problem ist, dass das eine Denkweise definiert, die lautet, dass das was vordergründig nützlich ist, auch das ist, was wirklich wichtige ist. Und das ist natürlich völliger Quatsch.
HB Das ist an den Universitäten genauso. Das gilt ja für Industrie- wie für Staatsmittel. Ich bin beeinflussbar, denn ich muss mein Forschungsfeld so zurechtbiegen, dass es in die Ausschreibung passt.
Manchmal liest man, dass irgendwo jemand darüber forscht, wie das Eichhörnchen pinkelt, oder sonst was. Das ist zweckfreie Forschung. Manchmal bewundere ich die, die das machen. Es gibt einen, der Ernährungsverhalten bei Pinguinen untersucht. Richtig spannend! Dem Pinguin ist das völlig wurscht, dem Rest der Bevölkerung auch.
AL Aber der kann tolle Geschichten erzählen.
HB Es nutzt niemandem. Das ist Generieren von Wissen, und das macht den Mensch ja auch aus – die Neugierde. Aber das ganze Wissen würde nichts bringen, wenn man es nicht kommunizieren kann. Das ist ein Grundproblem der Wissenschaften: Die Wissenschaft, die hoch finanziert ist, ist eine Elite- und eine elitäre Wissenschaft, und die richtete sich nach dem, was entweder staatlicherseits oder auf Industrieseite gebraucht wird. Und deswegen funktioniert sie nach anderen Prinzipien.
JP Das heißt, man ist zwischen zwei Polen eingeklemmt. Man kann nicht mehr vorurteilsfrei und ergebnisoffen Forschen, weil man ja die Finanzierung braucht. Und andererseits kann man zwar forschen, es hört einem dann aber niemand mehr zu.
AL Das heißt, man muss unabhängige Finanzmittel aufmachen, um die eigene Agenda zu bestimmen. Das muss auf jeden Fall das Ziel sein, die eigene Agenda zu bestimmen.
HB Wenn ich kurz was anmerken darf: es ist alles eine Frage des Geschäftsmodells. Auch Hunger ist ein Geschäftsmodell. Wenn es den Hunger nicht mehr gäbe, wäre eine Menge Leute arbeitslos. Je größer die Nische, in der ich das Geschäftsmodell ansiedle, desto mehr Erfolg habe ich. Dann kommt das Geld von selbst. Vielleicht ist das auch eine wichtige Überlegung: Die Kunst hat kein Geschäftsmodell. Oder?
JP Es gibt Marken, Künstler entwickeln Marken. Dann weiß man ganz klar, wenn ich Krach und Hitlergruß auf der Bühne will, dann gehe ich nicht zu Liebmann. Das ist ganz klar.
HB Das kann man als Geschäftsmodell bezeichnen.
JP Einer muss es ja machen.
HB Einer muss es ja machen.
Das wäre also für mich eine Frage. Lässt sich Politik von Seiten der Kunst über ein Geschäftsmodell verkaufen?
AL Für mich gibt es zwei wichtige Beispiele in dem Zusammenhang. Das eine ist von Monster Truck, Dschingis Khan. Das ist meines Achtens ein wirklich tolles Projekt. Sie arbeiten mit Behinderten, bedienen also die Sehnsucht nach Inklusion, dass alle zusammen sind. Aber sie reflektieren in der Zusammenarbeit mit den Behinderten eigentlich die Unmöglichkeit des Zusammenseins. Das funktioniert also auf der Ebene der Nützlichkeit, jeder versteht warum das wichtig ist. Es funktioniert aber auch auf der Ebene der Kunst, weil es sich sperrt in der Umsetzung. Es ist ästhetisch eher unangenehm. Sie haben da eine ziemlich coole Gratwanderung hinbekommen.
Das andere Projekte, was mich vielleicht noch mehr berührt, das ist das Projekt Alles von Showcase Beat Le Mot. Das ist Anti-Nützlichkeits-Kunst. Die sagen, wir machen ein Stück über alles und greifen diesen Wahn an, dass alles Sinn machen muss. Das ist eigentlich eine ganz sonderbare Theatermaschine in der man sich vier Stunden aufhalten kann. Es gibt ein bisschen Musik, ein bisschen Zauberei, ein paar Reden, und man weiß überhaupt nicht, worum es geht. Aber es war großartig! Es ist auf einem künstlerischen Niveau, dass man einfach denkt: Das ist eine Utopie von Gesellschaft. Und das ist schon was nützliches, aber man kann es überhaupt nicht über so einen Kamm scheren. Und interessanterweise ist das dann sehr politisch. Weil es ein gesellschaftlicher Entwurf ist, der sich da äußert.
Das zeigt so die Polarität von Nützlich und etwas anderem eben.
HB Das erinnert mich an eine Ausstellung in Barcelona, in einem ganz kleinen Museum für moderne Kunst. Das Thema war Politik. Man kommt in einen Raum, da hängen lauter Geschirrhandtücher in Form von Fahnen herum, und im Hintergrund läuft ein Film, vielleicht aus einem Vietnamfilm, indem ein General vor einer gigantischen amerikanischen Fahne hin und herläuft und zu einer Armee spricht. Was er aber spricht ist ein Truthahngericht. Man steht da fasziniert davor und hört, wie dieser Truthahn in den Ofen geschoben werden muss.
Es zeigt, dass das völlig zweckentfremdete, absurde manchmal politischer ist, als die eigentliche Politik, der ich mich verweigere.
Beweglich bleiben!
JP Ich würde zum Abschluss gerne mal eine These formulieren und ihr könnt darauf antworten: Anstatt zu versuchen, die Massen zu erreichen, sucht man sich ein kleines Publikum, das intellektuell auf dem Niveau ist, auf dem man sich gerne selbstkritisch ausdrücken möchte. Und man sagt, dass ist die Elite, die haben die Meinungsführerschaft, und ich setze darauf, dass diese Elite die Gedanken, die mir wichtig sind, weiterträgt, weil sie die Macht dazu hat. Das heißt, ich richte mich an die oberen Zehntausend, oder jedenfalls an die intellektuelle Elite, und sage, genau die instrumentalisiere ich politisch für das, was mir wichtig ist. Wäre das eine Möglichkeit aus dem Dilemma ‚rauszukommen.
HB Aus meiner Perspektive nicht. Das ist nur die intellektuelle Betroffenheitskultur, die ich da erkennen kann. Ich glaube, dass das nicht geht.
Ich glaube es könnte gelingen, wenn die Empörung von unten kommt. Siehe Steuerhinterziehung. Diese Empörung kommt ja nicht, weil die Intellektuellen das sagen, sondern weil sie von unten getragen wird. Also muss die Frage sein, wie erwecke ich das Interesse dieser Gruppe. Wie generiere ich Empörung? Da ist die Kunst möglicherweise der viel bessere Partner als die Wissenschaft, um Empörung zu generieren.
AL Mein Schlagwort wäre: Beweglich bleiben. Ich möchte eigentlich in der Lage sein, mit allen zu reden. Ich möchte mit Menschen reden, die hochspezifische Diskurse am Laufen haben, und ich möchte mit Leuten reden, die damit überhaupt nichts zu tun haben. Eigentlich finde ich das interessant. Und ich glaube auch nicht an so eine Meinungsführerschaft.
JP Von Paul Feyerabend gibt es ja den schönen Satz: „Bürgerinitiativen statt Erkenntnistheorie.“ Der sagt, letztlich, egal was man forscht, müssen die Bürger für sich entscheiden, was sie glauben wollen. Es ist egal ob es wahr ist oder nicht. Das entscheiden die sowieso dann.
HB Ich sage ja, die Empörung findet nicht mehr in den Cafés der Intellektuellen statt. Das war vielleicht früher mal so.
Hohenheim, 10. Februar 2014
JP
Plumpy’Nut ist eine erdnußbasierte Paste, die in Krisenregionen verteilt wird, um die Grundernährung zu sichern. „It was dubbed the wonder product that „may just be the most important advance ever“ when it comes to battling acute child hunger.“ (The Independent)
Plumpy’Nut konnte beim Experiment am 2. Februar im Labor probiert werden.
Artikel im Time Magazine
und im Independent
JP
Gestern Abend gab es die Aufwärmveranstaltung für den Abschluss der drei-wöchigen Zusammenarbeit von H K Biesalski und Andreas „Indiana Jones“ Liebmann. Wir haben uns über einem Berg von Lebensmitteln versammelt, Lebensmittel, die für niemanden mehr Mittel zum Leben oder Zutaten für die Küche geworden wären: Schweine- und Hühnerreste, angestoßenes Obst, verfärbtes Gemüse, aufgeplatzte Nudelpackungen. Darunter Dinge und Erscheinungen, die die meisten von uns nicht kennen – der Schweinekopf z.B., von innen und von außen. Die Gruppe teilte sich dann in zwei Fraktionen: die eine Fraktion ging in die Küche nebenan und kochte unter Leitung von Cecilie Ullerup Schmidt Pasta mit Chilitomatensoße und Ingwertee während die andere im Atelier neue Lebensformen aus alten Substanzen bastelte.
Die entstandenen Werke und Überreste sind heute Abend, Sonntag, 2.2.2014, ab 18:00 im Labor von Bouvard & Pecuchet zu besichtigen. Außerdem: Vortrag von Ethnologe Sebastian Schellhaas, Indiana Jones fragt und Biesalski antwortet, Tischmusik, Ernährugnstagebuchlesung, Resteverwertung, Essensfilme-Mashup und Diskussion.
„Ich glaube, dass sich die moderne Ernährungswissenschaft Gedanken um Dinge macht, die marginal sind. Dazu gehört es, zu untersuchen, ob irgendein sogenannter bioaktiver Stoff in irgendeinem Lebensmittel eine positive oder negative Bedeutung hat – Marginal, gemessen an der Bedeutung die die Ernährung für mehr als die Hälfte der Menschheit hat, die sich eben nicht richtig ernähren, die sich darum überhaupt keine Gedanken machen. Viele können sich diese Gedanken gar nicht machen. Weil die Lebensmittel, um die es hier geht, sind bei ihnen entweder nicht verfügbar, nicht vorhanden oder zu teuer. Und ich denke, die Aufgabe der Ernährungswissenschaft wäre, sich kollektiv Gedanken darüber zu machen, wie wir eine halbwegs ausreichende und halbwegs gesunde Ernährung in der Zukunft für alle Menschen erreichen könnten. Das nennt man Ernährungssicherheit und um die sollte es gehen. Ernährung ist bei uns zur Metapher für eine ganze Reihe von Archetypen geworden, also der Besseresser, der sich nur vegan ernährt und deswegen scheinbar besser sind, der nächste, der bestimmte Ernährungsmuster hat, auf bestimmte Dinge verzichtet, weil das z.B. Nachtschattengewächse sind. Und jeder einzwickelt ein eigenes Konzept was für ihn gesund ist. Die Zahl der selbsternannten Ernährungsgurus wächst ständig. Das heisst, wir kreisen um dieses Thema Ernährung ständig herum, indem wir Ernährung als Heilsbotschaft auf der einen, als Risiko auf der anderen Seite auf uns projezieren. Statt dass wir uns z.B. mal Gedanken machen, wie sich bei uns die arme Bevölkerung ernährt. Leben in Armut bedeutet kürzere Lebenserwartung, häufigere Krankheiten und bei Kindern Entwicklungsstörungen, die sie für ihr Leben begleiten. Gesunde Ernährung ist nicht alles, aber eben der Teil, der sich am besten ändern liesse. z.B. durch kostenfreie Ernährung in Kitas und Ganztagsschulen, die das verschiedene Europäische Länder schon lange haben.
Was passiert mit der Ernährungswissenschaft, wenn sie sich als Naturwissenschaft begreift? Sie bedient sich der Methoden der Biologie und der Medizin für ihr Fach. Dagegen ist ja nichts zu sagen. Das sind Methoden, die kann jeder Theologe lernen. Dazu braucht er keine spezielle Ausbildung. Und die Ernährungswissenschaft glaubt damit schon, sie sei eine Naturwissenschaft. Die Ernährungswissenschaft ist aber wie die Medizin eine empirische Wissenschaft, also eine Erfahrungswissenschaft. Das verneint sie zunehmend. Auch die Medizin ist eine Erfahrungswissenschaft. Und in dem Masse, in dem Medizin die Empirie aufgibt, entfernt sie sich eigentlich vom Menschen.
Wissenschaft – es gibt in der Philosophie, in der Erkenntnistheorie, wenn es um Wissenschaft geht, eine Diskussion „Was ist wahre Wissenschaft“. Und es gibt wirklich eine „wahre Wissenschaft“. Das ist die Physik. Die einzige sogenannte „wahre Wissenschaft“, weil ich aus Gesetzmässigkeiten auf Verhalten schliessen kann. Wenn ich in einem dunklen Raum zwei Kugeln aufeinander fliegen lasse, weiss ich, aufgrund der Stossgesetze, mit welcher Energie, in welchem Winkel, mit welchen Reibungsverlusten sich beide Kugeln begegnen. Das kann ich übertragen auf Weltallphänomene, bis runter, so lange die Physik gilt. Physik gilt nicht mehr, wahrscheinlich, das ist im Moment eine ganz spannende Diskussion, im Kern von Neutronensternen und schwarzen Löchern. Aber bis dahin ist sie eine „wahre Wissenschaft“. Und das versuchen wir in der Ernährungswissenschaft. Wir versuchen Kausalitäten herzustellen. Indem wir diese Kugel schlucken, und, auf der Basis dessen was von mir aus hinten rauskommt, schlussfolgern wollen, was mit der Kugel passiert ist. Das ist einfach Unfug. Würde jedem einleuchten. Ich würde mal so sagen: Das eine ist die Frage der Wissenschaftlichkeit überhaupt von Naturwissenschaften.
Aber was mich bei Ernährungswissenschaft zunehmend stört, dass sie sich in einer Art und Weise von der Lebensmittelindustrie auch abhängig macht, indem ständig nach neuen Kräuterchen gesucht wird, seien das Karotinoide oder Flavonoide oder sonstwas. Es werden Trends bedient, die dem Vebraucher vorher vermittelt wurden. Und die “Wundersubstanzen” werden dann in Tees und Salze und Joghurts gepackt und uns verkauft. Bestes Beispiel Probiotika. Pro biotischem Keim aus einem Joghurt kommen zehntausend Keime im Dickdarm, die bereits als unsere eigene Darmflora vorhanden sind. Was soll also der Quatsch! Es werden Unsummen in die sogenannte personalisierte Ernährung investiert. Das heisst, wir definieren von einer Person einen Genotypus, indem wir die Gene bestimmen, die mit Ernährung was zu tun haben könnten. Dann sagen, wie die sich ernähren in Bezug zu ihren Genen sollten. D.h. sie sollen dann entweder ganz wenig Fett oder ganz wenig Kohlenhydrate eines bestimmten Typs verzehren, oder gar kein Salz oder keinerlei Innereien usw. Wir vergessen dabei völlig, dass das Individuum sich niemals langfristig so genotypisch ernähren wird, weil es sich nach traditionellen Dingen, Geruch etc. – nach dem, was er für gut hält, richten wird. Wir essen ja viel viel mehr mit den Augen als mit der Zunge. Denn ehe wir etwas in den Mund lassen, betrachten wir es. Machen die meisten Tiere nicht. Wenn man Affen beobachtet, oder auch Schweine, die wühlen sich da durch, die haben ne gute Nase, dann wissen die, was sie essen wollen und weg damit. Wir haben im Zuge der Evolution etwa 150 Gene verloren. Und 140 von diesen 150 Genen haben was mit Geruch zu tun. Offensichtlich verlassen wir uns viel stärker auf das visuelle System, als auf den Geschmack. Wir sind auch bei Ernährung wenig taktil. Wir fassen zwar ne Tomate an, ob sie zu weich ist. Aber wir entscheiden selten über das taktile, ob wir es essen oder nicht. Wenn wir Hunger haben, essen wir sogar Sandkekse, wie dies in Haiti nach dem Erdvbeben passiert ist. Wenn der Ernährungsvorgang nicht hungergesteuert ist, guck ich mir das erst an. Wenn ich es nicht kenne oder weiss, dass ich das nicht mag, sag ich nicht, ich probiers heute mal, vielleicht schmecken mir die Radieschen heute besser. Ich esse sie nicht. Wenn ich aber Hunger hab, dann esse ich einen Sack voll Radieschen. Dann ist mir das egal, dass ich sie eigentlich nicht mag.
Da ist ein Forschungsfeld, wenn es um die Frage geht, „was ist gesunde Ernährung“ (kann ich schon lang nicht mehr hören) hier wird sehr viel investiert, da eben mit diesem Modell auch viel verdient werden kann. Und im Grund wissen wir nicht mehr als das was unsere Großmütter wussten: Gesunde Ernährung ist eine ausgewogenen Mischkost. Wenn es aber um die Frage geht, wie erkenne ich frühzeitig einen Mangel, wie kann ich ihn frühzeitig behandeln, welche Konsequenzen hat er. Da wird so gut wie nicht geforscht.
Ist das ein Problem der mangelnden Nachfrage?
Die Nachfrage ist ja vorhanden, es gibt 2 Milliarden Hungernde. Wenn ich sagen würde, „Hallo Nestle, da ist eine Nachfrage von mindestens 2 Milliarden Menschen nach Lebensmitteln, die sie dringend brauchen und nicht haben. Könntet Ihr durch züchterische oder techniosche oder sonstige Massnahmen für diese Lebensmittel entwickeln, die sie zu ihrer Grundnahrung Reis oder Mais dazuessen, damit sie gut versorgt sind.“ Dann würde Nestle zu Recht sagen: Machen wir – wer zahlts“.
Es wird ja oft gesagt, man muss Gentechnik und ähnliches machen weil sonst die Weltbevölkerung nicht ernährt werden kann. Aber alle diese Methoden sind doch im Grund Bevormundungstechniken. Eigentlich sollten doch alle in die Lage kommen, selber ihr Essen zu machen, statt zu sagen, die Industrie in den USA muss endlich die richtigen Lebensmittel herstellen.
Das ist langfristig der einzig richtige Ansatz, der nennt sich „Ernährungssouveränität“. Was wir erreichen müssen, und das sind z.B. Handelsgesetze, Probleme der Globalisierung, dass der Kleinbauer, der üblicherweise maximal einen Hektar Land hat, von diesem Hektar seine Familie ernähren kann. Und nicht auf dem Hektar irgend etwas pflanzt, das er dann verkauft, um damit was zu verdienen. Und mit dem Geld kann er dann nichts mehr anfangen! Da muss er Geräte und Schulden etc. damit bezahlen. Die Frage „How to feed the world“.. Wir müssen die Welt nicht füttern. Wir müssen sie ernähren. Ein Riesenunterschied. Füttern ist der Löffel Reis. Ernähren heisst Nahrungssouveränität. Das heisst auf der Basis der traditionell verfügbaren Lebensmittel und der Berücksichtigung von Tabus und der Berücksichtigung von Bedürfnissen unterschiedlicher Art für Kinder, Schwangere, Ältere. Wenn es möglich ist, das, was Jahrtausende lang ja ging, wieder geht, dass der Kleinbauer vor Ort sich und seine Familie ernährt und noch ne Kuh und zwei Hühner und zwei Ziegen hat. Dann braucht er sonst nichts. Es liegt ja nicht daran, dass die Bedürfnisse dieser Bauern gewachsen sind. Es liegt daran, dass wir diesen Bauern Bedürfnisse zuschieben, die sie gar nicht haben. Nach dem Motto „Pflanz doch noch n bisschen Dieselöl“ – über Jatrophanüsse kann man Diesel machen – „dann kannst Du was verdienen, davon kannst Du Dir Saatgut kaufen, dann kannst Du noch mehr verdienen“. Streng genommen müsste der Bauer sagen “Rutsch mir den Buckel runter, lass mir mein Stück Land“. Jetzt sind natürlich die Böden erodiert, teilweise kaputt, Klimaänderung kommt dazu. Und wenn sich z.B. zehn Kleinbauern, die ihre Familie ernähren können, zusammenschliessen, wenn sie die Sicherheit haben, dass sie das Land nicht geklaut kriegen können sie sagen: „So, jetzt kappt jeder zehn Prozent von seinem Land ab, das brauchen wir nicht“ – oder: „Du hast nur ein Kind und ich hab drei und du machst zehn Prozent, ich mach nur fünf Prozent, und das legen wir zusammen, und auf dem Land bauen wir irgendwas anderes noch an, was wir verkaufen können für besseres Saatgut“ und und und. Nur so wird es funktionieren. Im Kleinen funktionierts. Es gibt Projekte – ich betreue so ein Projekt – „Dorfhelferprojekt“ in Nepal. Da haben wir angefangen vor zwanzig Jahren in einzelnen Höfen den Leuten zu zeigen, was sie mit ihren Böden machen können, was sie anpflanzen können. Heute wird das Projekt durch eine örtliche Kooperation von Bauern und kleinen Händlern betreut. Da wachsen zum Beispiel Kürbisse. Die Engländer haben in Nepal eingeführt, dass die Kürbisse nicht mehr ums Haus rumwachsen – weil dann fressen es die Kühe und die Ziegen – sondern auf dem Dach. Und wenn man durch nepalesische Dörfer fährt – die übrigens zauberhaft schön aussehen, die Häuser sind meistens in einem Orangeton gestrichen – auf den Strohdächern liegen die Riesenkürbisse. Die Schweine und Ziegen gehen zwar unten an das Grünzeug dran – die Rinder nicht, weil es bitter ist. Das sind so Ansätze. Ich denke, aber, der Zug ist bereits abgefahren., null Optimismus, dass das klappen könnte. Weil ich glaube, dass das, was wir jetzt sehen mit den Flüchtlingen im Mittelmeer, das hab ich vor mehr als zwanzig Jahren schon immer gesagt, das ist der Anfang einer Rieseninvasion und die halten wir nicht mehr auf, wenn die Menschen keine Perspektive in ihrem eigenen Land haben, weil dieser Trieb „Hunger“ und auch Perspektivlosigkeit stärker sind… .. wenn hunderttausende an der türkischen Grenze stehen, das kann ich vielleicht noch abwehren, aber wenn fünf oder zehn Millionen da stehen, dann machen wir gar nichts.
Du sagst, wir sind überzüchtet. Das, was wir wirklich tun sollten, das können wir nicht machen.
Übersättigt, überzüchtet.
Du sagst eigentlich nicht „Zurück zur Natur“, sondern, sorry, bitte mal den Blick aufs Wesentliche richten.
Einfach mal die Luft anhalten. Was machen wir da eigentlich?
Du sagt: Die Wissenschaft, die ich mache, ist eigentlich abgegrast, abgesehen von ein paar wichtigen Sachen. Eigentlich gehts um Ernährungspolitik.
Es geht auch um Politik. Ich würde nicht sagen, dass die Wissenschaft abgegrast ist. Ich würde sagen, man kann vieles, was man tut als Ernährungswissenschaft bezeichnen, obwohl es gar keine ist: Es ist Biologie. Es gibt ein anderes Problem in Deutschland, ein ganz simples. z.B. Pflegekongress in Berlin. Wir hören über die Demenzkranken Alten. Zur Zeit – wieviel sinds – zwei Millionen. Es gibt einen Pflegebericht der Bundesregierung. Da steht drin, dass 60 Prozent der Alten, die in Heimen sind, mangelernährt sind. Wir haben überhaupt kein Konzept, wie wir damit umgehen sollen. Jetzt kann man natürlich die Frage stellen – lass sie doch mangelernährt sein, dann sterben sie früher weg. Nur möglicherweise hätten sie eine weitaus höhere Lebensqualität wenn sie besser ernährt wären und sie würden auch nicht so viel kosten, weil Mangelernährung krank macht. Da gibts viele Beispiele. Die Krebspatienten. Mehr als die Hälfte der Krebspatienten sterben nicht am Krebs, sondern am verhungern, weil sie nicht wissen: Der Krebs selber führt oft zu einem sogenannten Hypermetabolismus und verbraucht die Susbtanz, wenn sie nicht erneuert wird, d.h. wenn nicht ausreichend Nahrung aufgenommen wird, was im Zuge der Behandlung oft nicht möglich ist. Wenn ich jetzt wüsste, ich hab ne Krebserkrankung, dann würd ich das Doppelte von dem essen, was ich sonst gegessen habe. Richtig in die Vollen gehen. Einfach sagen: Speichern! Ein einfaches Prinzip, dann habe ich mehr wenn ich es brauche.
Diese Ernährungswissenschaft, die wir betreiben, die brauchen wir nicht in dem Ausmass. Wenn wir überlegen, wir haben in Deutschland nicht einen einzigen Lehrstuhl, der sich mit Ernährung in Entwicklungsländern befasst. Nicht einen einzigen. Wir hatten einen in Giessen. Da sass ein Tropenmediziner drauf. Der geht jetzt in Ruhestand. Der Lehrstuhl wird abgeschafft. Wir haben keine Forschung auf dem Gebiet. Weil – wie eine Kollegin sagte – „das hat keinen Impact“. „Impact“ heisst: welcher junge Mensch will zum Thema Hunger forschen – es sei denn, er macht das molekularbiologisch, was keinen wirklichen Sinn macht – wenn er damit nicht habilitieren und keine Karriere machen kann. Wenn ich vor dreissig Jahren, als ich habilitierte, mich mit den Fragen beschäftigt hätte, mit denen ich heute mich beschäftigte, wäre ich im Leben nicht so weit gekommen, wie ich gekommen bin. Das bringt keinen, wie man schön sagt, wissenschaftlichen Impact. Es hat einen humanen Impact. Nur: Das interessiert uns nicht. Die Wissenschaft hat sich bei uns in einer Form verselbständigt, wo nur noch Höchstleistungen gelten. Höchstleistungen definieren sich oft methodisch. Wenn ich im Kolben rühre. Ein running Gag. Wollen wir ein Kürbissüppchen essen?“
Transkribiert und bearbeitet von Indiana Jones
Auf Kohlleinwand wird gezeigt: Das grosse Fressen. Auf dem Laptop wird gezeigt: „Es werde Licht“. Bei „Es werde Licht“ werden Menschen portraitiert, die behaupten, ohne physische Nahrungsaufnahme überleben zu können. Der Dok-Filmer reist um die ganze Welt und trifft Nicht-Esser in Basel, Australien, China, Indien, Russland, Österreich. Der Alpen-Yogi kommt zu Wort, der Diät-Arzt (Hauptmerkmal: Überlegenes Lächeln), der von den Göttern geküsste Inder, der weise Chinese, die reiche Esorine (sie isst nichts, und verdient sich damit eine goldene Nase), die lichtfressende Russin mit den Speckröllchen, der tennisspielende Sucher, der sich freiwillig in Untersuchung begibt, und nicht zuletzt der amerikanische Quantenwissenschaftler, bei dem sowieso jedem die Argumente ausgehen, weil er empirisch nachweisen kann, dass die Welt nicht ist, was sie scheint. Der ganze Film ist in seiner Argumentation so manipulativ, dass man keine Ahnung hat, was man davon halten soll. B hat eine klare Meinung: Die Protagonisten des Films sind entweder Betrüger oder Psychotiker. Den einen Fall kennt er aus eigener Anschauung und weiss, welche Informationen der Film unterschlägt: Etwa, dass die betroffene Person im Laborversuch ein Kilogramm pro Tag abgenommen hat – was genau dem erwarteten Wert entsprach, und auch, dass die Person sich weigerte, dass der Wissenschaftler dessen Wohnung untersucht (Auf der Suche nach Hochleistungsnahrungsriegeln), sowie sich weigerte, dass auch seine Frau untersucht wird. B´s Verdikt: „Das ist eine psychotische Abhängigkeitsbeziehung. Sie füttert ihn nachts. Wahrscheinlich weiss er das nicht, und es ist nicht einmal sicher, ob sie das weiss. „. Zu Wort kommen auch Menschen, die versucht haben, sich von Licht zu ernähren, und den Versuch abgebrochen haben – einer versucht es sogar live und dokumentiert alles per Videotagebuch. Nach einer Woche ohne Essen und Trinken gibt er auf. Selbstverständlich hat er es falsch angepackt und ist selber schuld. Die grosse Gurunesin der Ernährungslosigkeit liess sich im Krankenhaus tagelang unter die Lupe nehmen. Nach wenigen Tagen ohne Essen wurde der Versuch (gegen ihren Willen) wegen Gefährdung des Lebens abgebrochen. Die sympathische Chinesin, die alles mit Chi und weiteren Kräften erklärt, wirkt noch am glaubhaftesten. Ist das wirklich der Weg, dem Problem des Materialismus zu entkommen? Warum verbreiten die Lichternährer ihre Lehre nicht in hungerleidenden Gesellschaften? Europa hat wohl genau den richtigen Hunger: Den Metaphysischen. Und man weiss nicht, ob lichtessende Chinesen einem chinesischen Kamerateam dasselbe erzählen würde, und was der indische Arzt seinen indischen Kollegen sagt. Der Inder, der seit 60 Jahren nichts isst, wer mag er sein? Die vier Freunde, die sich in „Das grosse Fressen“ zu Tode essen, sind gegen das Gruselkabinett der Lichternährer direkt zum Knuddeln. Ach Metaphysik! Sähe sie nur so aus, wie ich mir wünschte, mit weisen Lehrern und einfachen Regeln. Der Exzess, sich zu Tode zu fressen, ist nicht weit von dem anderen Exzess, sich zu Tode zu hungern entfernt. Der Wunsch, die Selbstkontrolle zu verlieren, der Wunsch, die totale Kontrolle zu übernehmen.
Ach Leben
Wärs Du nur so, wie ich dächte
Könnte ich Dich, ach, in die Hand nehmen, streicheln, hervorzaubern und wegsperren wie mir beliebte
Ach
Leben
Könnte ich Dich nach meinem Bilde formen
Ausschliessen, was nicht reinpasste
Einschliessen, was reinmüsste
Und müsste ich nicht
Schritt für Schritt
Mühsam
Immer wieder neu dich
durch Abenteuer
Luftsprünge
Seitenhiebe
Faustschläge
Niederlagen
Tauchgänge
Klettereien
Handschlägen
Blickwechsel
Neu erfahren
Ach, ich hätte mich längst mit Dir auf eine Wiese gelegt
Die Monate
froh
durchschlafen.
(Indiana Jones)
AL 31.1.2014