Archiv

Archiv für den Monat November 2021

Nach einem langen Recherchesommer durch niedersächsische Fleischgefilde entstand im Rahmen der FREISCHWIMMEN-Residenz am Theater Rampe die konkrete Vision und Dramaturgie für unsere interaktive Fest-Aufführung FLEISCH. Aus unzähligen Stunden Audiomaterial von Gesprächen mit Schweinebauern, Fleischarbeiter*innen, Zukunftsforschenden oder Grillmeistern sammelten wir unsere Perlen und zentralen Fragestellungen zusammen um sie auf der Probebühne auszubreiten und aus ihnen schlau zu werden. 

“Fleischfragen sind Beziehungsfragen!” / War Prometheus eigentlich der erste Grillmeister, als er den Menschen das Feuer brachte? / Klee ist das neue Beef des starken Mannes! / “Es ist das Schicksal des Menschen, das er von getöteten Seelen lebt.” 

Bei einem Teamausflug ins Fleischermuseum in Böblingen spielten wir leider kein Wurstaufschnitt-Memory, sprachen dafür aber viel mit Museumsleiter Christian Baudisch, zum Beispiel über den Humor, den es braucht, um verschiedene Meinungen zu einem polarisierenden Thema wie FLEISCH zu versammeln; im weltgrößten Schweinemuseum wühlten wir uns durch mehrere Etagen Schweinewelten, um danach Käsespätzle im ehemaligen Schlachthof zu essen, an einem sinnlichen Grill-Nachmittag versuchten wir uns selbst im Wursten, kochten vegane Blutsuppe, übten einen Schlacht-Fest-Kanon und entwickelten Strategien für den Umgang mit den Interview-Audios. Zwei intensive und produktive FLEISCH-Wochen sind zu Ende, danke an das Theater Rampe und bis bald! 

Das Fleischermuseum in Böblingen

Bei WUNDERLAND begeben sich die apokalyptischen tänzerin*nen gemeinsam mit der feministischen Influencerin Alice auf einen musikalischen, performativen Roadtrip. Im folgenden beantwortet das Kollektiv einige Fragen zum Stück.

Mit diesem Stück geht die Zusammenarbeit des Kollektivs mit Mugetha Gachago (*2009) in die dritte Runde. In diesem ersten Stück des Stuttgarter Autors steht der Ort Wunderland im Mittelpunkt. Dort ist nichts, wie es scheint und vieles ver-rückt. Ver-rückt ist hier ganz wörtlich gemeint – etwas aus dem Zentrum verschoben, nicht ganz zentriert. Gemeinsam mit der Komponistin Sara Glojnarić entwickelt Gachago eine, das Bühnengeschehen begleitende, unterwandernde, überschreibende, Symphonie des Alltags.

Was können die Zuschauer*innen vom Stück erwarten – eine moderne Alice-im-Wunderland-Geschichte?

Es steckt natürlich viel mehr dahinter. Für WUNDERLAND leiht sich der Autor Mugetha Gachago Figuren und Teile der Handlung des Weltbestsellers „Alice im Wunderland“. Er überschreibt diese Vorlage mit neuen Assoziationen, reichert sie an, um auf der Schablone etwas über das Erleben der Realität zu erzählen. Gachagos Text stellt binäre Moralvorstellungen in Frage. Gut und Böse werden ad absurdum geführt und in ihrer Antiquiertheit entlarvt.

 Woher stammt die Idee für dieses Stück?

Das ist unsere dritte Zusammenarbeit mit Mugetha Gachago und die erste bei der er als alleiniger Autor auftritt. Zurück geht diese Aufteilung auf ein Gespräch nach following mo, einem subjektiven Stadtspaziergang durch Stuttgart, bei dem sich Mugetha Gachago als Autor zu erkennen gab. Wir, die apokalyptischen tänzerin*nen hatten bis dahin noch nie mit einer externen Autorin*nen Position zusammengearbeitet und diese Erfahrung reizte uns. Gachago traf die Wahl, „Alice im Wunderland“ zu bearbeiten und entschied sich aber von vornherein für WUNDERLAND als Titel, um zumindest subtil zu erkennen zu geben, dass es sich um eine Bearbeitung handelt.

Wie kam die Zusammenarbeit mit Mugetha Gachago zustande?

Wir haben uns im Rahmen eines Kostümworkshops kennengelernt. Für unser Projekt forever apocalyptic (2018), haben wir Kinder eingeladen, Kostüme von ausgestorbenen Tieren für uns zu designen. Mugetha Gachago hat die Vorgabe sich als Art Director zu sehen direkt verstanden und entsprechend Aufgaben sehr gut delegiert. Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden und so kam es dann zu dem Projekt following mo.

In der Stückbeschreibung heißt es, WUNDERLAND sei aus dem Zentrum verschoben und nicht ganz zentriert. Was ist damit gemeint?

Einer der ersten rahmengebenden Sätze, die Mugetha Gachago mit uns geteilt hat zu Wunderland war: „Nichts ist, wie es scheint.“ Damit ist gemeint, dass nichts eins zu eins unseren Erwartungen entspricht, gut ist mindestens genauso viel böse, und manche Dinge stehen einfach Kopf, zumindest im Verhältnis zu unserer Realität – denn in Wunderland ist Autofahren etwas richtig Gutes.

Welchen Sinn hat die Blume des Lebens im Stück, die hier Gegenstand der Suche ist.

Von der Blume des Lebens ist das ganze Leben Wunderlands abhängig. Dementsprechend gibt es ein übersteigertes Interesse an ihr. Die Suche nach ihr treibt die Geschichte voran. Gleichzeitig führt sie ein ausschweifendes Eigenleben, ist Mutter und hält den Burger-Rekord.

Für welche Zielgruppe ist WUNDERLAND?

Die Anfangszeiten sind sehr unterschiedlich, weil wir ein möglichst breit aufgestelltes Publikum ansprechen wollen. Die Altersempfehlung ist ab 10 Jahren, aber das Stück ist nicht explizit oder ausschließlich für Kinder. Außerdem gibt es am 4. Dezember vor der Vorstellung eine Bühnenbegehung/Touchführung und einen Artist Talk für blindes und sehbehindertes Publikum.

Foto: Dominique Brewing

In Koproduktion mit FREISCHWIMMEN – eine Plattform für Performance und Theater von brut Wien, FFT Düsseldorf, Gessnerallee Zürich, HochX München, LOFFT – DAS THEATER Leipzig, Schwankhalle Bremen, Sophiensæle Berlin und Theater Rampe Stuttgart. In Kooperation mit dem Theater Rampe und dem Theaterhaus Stuttgart.

Freischwimmen

Skizzen aus dem Protokoll der Veranstaltung IF YOU GOT IT, GIVE IT: Prozessbegleiterin Handan Kaymak im Gespräch mit 360-Grad-Agentin Leyla Ercan

Handan Kaymak: Lass uns über Ausschreibungsprozesse sprechen, wie können solche auf mehr Teilhabe ausgerichtet werden? Und warum ist das überhaupt wichtig?

Leyla Ercan: Es gibt in ganz Deutschland sehr spezifisches künstlerisches Personal, welches traditionell aus einem eng begrenzten Milieu kommt. Dieses bringt sehr viel Kapital mit, wurden schon früh kulturell etc. sozialisiert. Dieses Personal gestaltet ein sehr spezifisches Programm, sehr bildungsbürgerlich durch einen elit. Kunst und Kulturbereich. Zieht bestimmtes Publikum an, diese ziehen weiteres an. Teufelskreis des Theaters. Das Publikum ist wahnsinnig homogen und hat sehr spezifischen Habitus, 5-7% der Ges. sind dieses Publikum. Dort hat sich nichts verändert, seit Jahrzehnten.  Personal hat damit viel zu tun: Who you hire is who you become.

In den höchsten Posten muss sich etwas ändern, damit sich Intendanz-zentrierte Einrichtungen weiterentwickeln können. Intendanzen müssen aufgrund ihrer Entscheidungsgewalt gut ausgewählt werden. Es wird immer mehr gefordert, das können wenige Menschen erfüllen: Management, künstlerisches Denken, Personalführung, Kulturpolitik, P&Ö… Infrage stellen: welche Kompetenzen werden erwartet und welche sind tatsächlich grundlegend. Stärker abfragen, welche davon vorhanden sind.

Stellschrauben hierfür wären, Leitungsmodelle überdenken: Teamleitung… Intendanzuntypische Lebensläufe und Karrieren, Diversitätskompetenzen sind Zukunftskompetenzen! Weg von symbolpol. Ansätzen, wirtschaftl. Motivierten Ansätzen, deswegen: Strukturwissen abfragen!

Andenken für weiteren Theater Rampe Prozess: Kriterien Checkliste entwerfen und sie dann auf Kandidaten* auswerten, Modell für frühes on-Boarding, diskriminierungsbewusste Gestaltung des Prozesses.

Fragen aus dem Publikum:

Gast: Wo veröffentlicht man solche Ausschreibungen? Damit sie mehr Menschen erreichen, wenn man keine großen Verteiler hat.

Handan Kaymak: Nur dort verteilen, wo es Interesse und Schutzraum für diversere Intendanzen und Mitarbeitenden etc. gibt. Nicht nur vorn herum veröffentlichen, sondern sich die Zeit nehmen, Leute einzuführen und Codes so formulieren, dass sie BIPoC etc. ansprechen – dann werden mehr darauf aufmerksam, weil sie den unterschwelligen Ton hören.

Leyla Ercan: Auch Quereinsteiger* einladen und dann das Commitment haben, dabei zu bleiben und dieses Interesse zu halten: Entscheidungsträger müssen festlegen, ob sie viel Erfahrung und eine kurze Übergangszeit möchten, oder auch diverse Menschen aufnehmen und ihnen den Raum geben, zu lernen.

Gast: Die Institutionen, die sich in diese Prozesse begeben, sind oft sehr weiß, das kann für Bipoc hart sein. Wie kann es gelingen, dass diese nicht zu „Token“ werden?

Handan Kaymak: Bipoc-Person hat oft „zusätzlichen Job“ aufgrund ihrer Erfahrung mit Marginalisierung. Radikaler Entscheidungsschritt muss sein: wir schaffen erst einen Schutzraum, dann holen wir jemanden. Es gibt keine strengen Konzepte dazu, sondern etwas muss im Voraus erarbeitet werden, um zu funktionieren. Man übernimmt eine Verantwortung, einen Arbeitsplatz ohne Diskriminierung zu bieten.

Leyla Ercan: Quoten helfen dabei, Minderheiten nicht auf ihre Minderheitsmerkmale zu reduzieren, sondern sie als kompetente Mitarbeiter* zu sehen. Unterrepräsentanz vermeiden.