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Archiv für den Monat Januar 2014

„Ich glaube, dass sich die moderne Ernährungswissenschaft Gedanken um Dinge macht, die marginal sind. Dazu gehört es, zu untersuchen, ob irgendein sogenannter bioaktiver Stoff in irgendeinem Lebensmittel eine positive oder negative Bedeutung hat – Marginal, gemessen an der Bedeutung die die Ernährung für mehr als die Hälfte der Menschheit hat, die sich eben nicht richtig ernähren, die sich darum überhaupt keine Gedanken machen. Viele können sich diese Gedanken gar nicht machen. Weil die Lebensmittel, um die es hier geht, sind bei ihnen entweder nicht verfügbar, nicht vorhanden oder zu teuer. Und ich denke, die Aufgabe der Ernährungswissenschaft wäre, sich kollektiv Gedanken darüber zu machen, wie wir eine halbwegs ausreichende und halbwegs gesunde Ernährung in der Zukunft für alle Menschen erreichen könnten. Das nennt man Ernährungssicherheit und um die sollte es gehen. Ernährung ist bei uns zur Metapher für eine ganze Reihe von Archetypen geworden, also der Besseresser, der sich nur vegan ernährt und deswegen scheinbar besser sind, der nächste, der bestimmte Ernährungsmuster hat, auf bestimmte Dinge verzichtet, weil das z.B. Nachtschattengewächse sind. Und jeder einzwickelt ein eigenes Konzept was für ihn gesund ist. Die Zahl der selbsternannten Ernährungsgurus wächst ständig. Das heisst, wir kreisen um dieses Thema Ernährung ständig herum, indem wir Ernährung als Heilsbotschaft auf der einen, als Risiko auf der anderen Seite auf uns projezieren. Statt dass wir uns z.B. mal Gedanken machen, wie sich bei uns die arme Bevölkerung ernährt. Leben in Armut bedeutet kürzere Lebenserwartung, häufigere Krankheiten und bei Kindern Entwicklungsstörungen, die sie für ihr Leben begleiten. Gesunde Ernährung ist nicht alles, aber eben der Teil, der sich am besten ändern liesse. z.B. durch kostenfreie Ernährung in Kitas und Ganztagsschulen, die das verschiedene Europäische Länder schon lange haben.

Was passiert mit der Ernährungswissenschaft, wenn sie sich als Naturwissenschaft begreift? Sie bedient sich der Methoden der Biologie und der Medizin für ihr Fach. Dagegen ist ja nichts zu sagen. Das sind Methoden, die kann jeder Theologe lernen. Dazu braucht er keine spezielle Ausbildung. Und die Ernährungswissenschaft glaubt damit schon, sie sei eine Naturwissenschaft. Die Ernährungswissenschaft ist aber wie die Medizin eine empirische Wissenschaft, also eine Erfahrungswissenschaft. Das verneint sie zunehmend. Auch die Medizin ist eine Erfahrungswissenschaft. Und in dem Masse, in dem Medizin die Empirie aufgibt, entfernt sie sich eigentlich vom Menschen.

Wissenschaft – es gibt in der Philosophie, in der Erkenntnistheorie, wenn es um Wissenschaft geht, eine Diskussion „Was ist wahre Wissenschaft“. Und es gibt wirklich eine „wahre Wissenschaft“. Das ist die Physik. Die einzige sogenannte „wahre Wissenschaft“, weil ich aus Gesetzmässigkeiten auf Verhalten schliessen kann. Wenn ich in einem dunklen Raum zwei Kugeln aufeinander fliegen lasse, weiss ich, aufgrund der Stossgesetze, mit welcher Energie, in welchem Winkel, mit welchen Reibungsverlusten sich beide Kugeln begegnen. Das kann ich übertragen auf Weltallphänomene, bis runter, so lange die Physik gilt. Physik gilt nicht mehr, wahrscheinlich, das ist im Moment eine ganz spannende Diskussion, im Kern von Neutronensternen und schwarzen Löchern. Aber bis dahin ist sie eine „wahre Wissenschaft“. Und das versuchen wir in der Ernährungswissenschaft. Wir versuchen Kausalitäten herzustellen. Indem wir diese Kugel schlucken, und, auf der Basis dessen was von mir aus hinten rauskommt, schlussfolgern wollen, was mit der Kugel passiert ist. Das ist einfach Unfug. Würde jedem einleuchten. Ich würde mal so sagen: Das eine ist die Frage der Wissenschaftlichkeit überhaupt von Naturwissenschaften.

Aber was mich bei Ernährungswissenschaft zunehmend stört, dass sie sich in einer Art und Weise von der Lebensmittelindustrie auch abhängig macht, indem ständig nach neuen Kräuterchen gesucht wird, seien das Karotinoide oder Flavonoide oder sonstwas. Es werden Trends bedient, die dem Vebraucher vorher vermittelt wurden. Und die “Wundersubstanzen” werden dann in Tees und Salze und Joghurts gepackt und uns verkauft. Bestes Beispiel Probiotika. Pro biotischem Keim aus einem Joghurt kommen zehntausend Keime im Dickdarm, die bereits als unsere eigene Darmflora vorhanden sind. Was soll also der Quatsch! Es werden Unsummen in die sogenannte personalisierte Ernährung investiert. Das heisst, wir definieren von einer Person einen Genotypus, indem wir die Gene bestimmen, die mit Ernährung was zu tun haben könnten. Dann sagen, wie die sich ernähren in Bezug zu ihren Genen sollten. D.h. sie sollen dann entweder ganz wenig Fett oder ganz wenig Kohlenhydrate eines bestimmten Typs verzehren, oder gar kein Salz oder keinerlei Innereien usw. Wir vergessen dabei völlig, dass das Individuum sich niemals langfristig so genotypisch ernähren wird, weil es sich nach traditionellen Dingen, Geruch etc. – nach dem, was er für gut hält, richten wird. Wir essen ja viel viel mehr mit den Augen als mit der Zunge. Denn ehe wir etwas in den Mund lassen, betrachten wir es. Machen die meisten Tiere nicht. Wenn man Affen beobachtet, oder auch Schweine, die wühlen sich da durch, die haben ne gute Nase, dann wissen die, was sie essen wollen und weg damit. Wir haben im Zuge der Evolution etwa 150 Gene verloren. Und 140 von diesen 150 Genen haben was mit Geruch zu tun. Offensichtlich verlassen wir uns viel stärker auf das visuelle System, als auf den Geschmack. Wir sind auch bei Ernährung wenig taktil. Wir fassen zwar ne Tomate an, ob sie zu weich ist. Aber wir entscheiden selten über das taktile, ob wir es essen oder nicht. Wenn wir Hunger haben, essen wir sogar Sandkekse, wie dies in Haiti nach dem Erdvbeben passiert ist. Wenn der Ernährungsvorgang nicht hungergesteuert ist, guck ich mir das erst an. Wenn ich es nicht kenne oder weiss, dass ich das nicht mag, sag ich nicht, ich probiers heute mal, vielleicht schmecken mir die Radieschen heute besser. Ich esse sie nicht. Wenn ich aber Hunger hab, dann esse ich einen Sack voll Radieschen. Dann ist mir das egal, dass ich sie eigentlich nicht mag.
Da ist ein Forschungsfeld, wenn es um die Frage geht, „was ist gesunde Ernährung“ (kann ich schon lang nicht mehr hören) hier wird sehr viel investiert, da eben mit diesem Modell auch viel verdient werden kann. Und im Grund wissen wir nicht mehr als das was unsere Großmütter wussten: Gesunde Ernährung ist eine ausgewogenen Mischkost. Wenn es aber um die Frage geht, wie erkenne ich frühzeitig einen Mangel, wie kann ich ihn frühzeitig behandeln, welche Konsequenzen hat er. Da wird so gut wie nicht geforscht.

Ist das ein Problem der mangelnden Nachfrage?

Die Nachfrage ist ja vorhanden, es gibt 2 Milliarden Hungernde. Wenn ich sagen würde, „Hallo Nestle, da ist eine Nachfrage von mindestens 2 Milliarden Menschen nach Lebensmitteln, die sie dringend brauchen und nicht haben. Könntet Ihr durch züchterische oder techniosche oder sonstige Massnahmen für diese Lebensmittel entwickeln, die sie zu ihrer Grundnahrung Reis oder Mais dazuessen, damit sie gut versorgt sind.“ Dann würde Nestle zu Recht sagen: Machen wir – wer zahlts“.

Es wird ja oft gesagt, man muss Gentechnik und ähnliches machen weil sonst die Weltbevölkerung nicht ernährt werden kann. Aber alle diese Methoden sind doch im Grund Bevormundungstechniken. Eigentlich sollten doch alle in die Lage kommen, selber ihr Essen zu machen, statt zu sagen, die Industrie in den USA muss endlich die richtigen Lebensmittel herstellen.

Das ist langfristig der einzig richtige Ansatz, der nennt sich „Ernährungssouveränität“. Was wir erreichen müssen, und das sind z.B. Handelsgesetze, Probleme der Globalisierung, dass der Kleinbauer, der üblicherweise maximal einen Hektar Land hat, von diesem Hektar seine Familie ernähren kann. Und nicht auf dem Hektar irgend etwas pflanzt, das er dann verkauft, um damit was zu verdienen. Und mit dem Geld kann er dann nichts mehr anfangen! Da muss er Geräte und Schulden etc. damit bezahlen. Die Frage „How to feed the world“..  Wir müssen die Welt nicht füttern. Wir müssen sie ernähren. Ein Riesenunterschied. Füttern ist der Löffel Reis. Ernähren heisst Nahrungssouveränität. Das heisst auf der Basis der traditionell verfügbaren Lebensmittel und der Berücksichtigung von Tabus  und der Berücksichtigung von Bedürfnissen unterschiedlicher Art für Kinder, Schwangere, Ältere. Wenn es möglich ist, das, was Jahrtausende lang ja ging, wieder geht, dass der Kleinbauer vor Ort sich und seine Familie ernährt und noch ne Kuh und zwei Hühner und zwei Ziegen hat. Dann braucht er sonst nichts. Es liegt ja nicht daran, dass die Bedürfnisse dieser Bauern gewachsen sind. Es liegt daran, dass wir diesen Bauern Bedürfnisse zuschieben, die sie gar nicht haben. Nach dem Motto „Pflanz doch noch n bisschen Dieselöl“ – über Jatrophanüsse kann man Diesel machen – „dann kannst Du was verdienen, davon kannst Du Dir Saatgut kaufen, dann kannst Du noch mehr verdienen“. Streng genommen müsste der Bauer sagen “Rutsch mir den Buckel runter, lass mir mein Stück Land“. Jetzt sind natürlich die Böden erodiert, teilweise kaputt, Klimaänderung kommt dazu. Und wenn sich z.B.  zehn Kleinbauern, die ihre Familie ernähren können, zusammenschliessen, wenn sie die Sicherheit haben, dass sie das Land nicht geklaut kriegen können sie sagen: „So, jetzt kappt jeder zehn Prozent von seinem Land ab, das brauchen wir nicht“ – oder: „Du hast nur ein Kind und ich hab drei und du machst zehn Prozent, ich mach nur fünf Prozent, und das legen wir zusammen, und auf dem Land bauen wir irgendwas anderes noch an, was wir verkaufen können für besseres Saatgut“ und und und. Nur so wird es funktionieren. Im Kleinen funktionierts. Es gibt Projekte – ich betreue so ein Projekt – „Dorfhelferprojekt“ in Nepal. Da haben wir angefangen vor zwanzig Jahren in einzelnen Höfen den Leuten zu zeigen, was sie mit ihren Böden machen können, was sie anpflanzen können. Heute wird das Projekt durch eine örtliche Kooperation von Bauern und kleinen Händlern betreut. Da wachsen zum Beispiel Kürbisse. Die Engländer haben in Nepal eingeführt, dass die Kürbisse nicht mehr ums Haus rumwachsen – weil dann fressen es die Kühe und die Ziegen – sondern auf dem Dach. Und wenn man durch nepalesische Dörfer fährt – die übrigens zauberhaft schön aussehen, die Häuser sind meistens in einem Orangeton gestrichen – auf den Strohdächern liegen die Riesenkürbisse. Die Schweine und Ziegen gehen zwar unten an das Grünzeug dran – die Rinder nicht, weil es bitter ist. Das sind so Ansätze. Ich denke, aber, der Zug ist bereits abgefahren., null Optimismus, dass das klappen könnte. Weil ich glaube, dass das, was wir jetzt sehen mit den Flüchtlingen im Mittelmeer, das hab ich vor mehr als zwanzig Jahren schon immer gesagt, das ist der Anfang einer Rieseninvasion und die halten wir nicht mehr auf, wenn die Menschen keine Perspektive in ihrem eigenen Land haben, weil dieser Trieb „Hunger“ und auch Perspektivlosigkeit stärker sind… ..  wenn hunderttausende an der türkischen Grenze stehen, das kann ich vielleicht noch abwehren, aber wenn fünf oder zehn Millionen da stehen, dann machen wir gar nichts.

Du sagst, wir sind überzüchtet. Das, was wir wirklich tun sollten, das können wir nicht machen.

Übersättigt, überzüchtet.

Du sagst eigentlich nicht „Zurück zur Natur“, sondern, sorry, bitte mal den Blick aufs Wesentliche richten.

Einfach mal die Luft anhalten. Was machen wir da eigentlich?

Du sagt: Die Wissenschaft, die ich mache, ist eigentlich abgegrast, abgesehen von ein paar wichtigen Sachen. Eigentlich gehts um Ernährungspolitik.

Es geht auch um Politik. Ich würde nicht sagen, dass die Wissenschaft abgegrast ist. Ich würde sagen, man kann vieles, was man tut als Ernährungswissenschaft bezeichnen, obwohl es gar keine ist: Es ist Biologie. Es gibt ein anderes Problem in Deutschland, ein ganz simples. z.B. Pflegekongress in Berlin. Wir hören über die Demenzkranken Alten. Zur Zeit – wieviel sinds – zwei Millionen. Es gibt einen Pflegebericht der Bundesregierung. Da steht drin, dass 60 Prozent der Alten, die in Heimen sind, mangelernährt sind. Wir haben überhaupt kein Konzept, wie wir damit umgehen sollen. Jetzt kann man natürlich die Frage stellen – lass sie doch mangelernährt sein, dann sterben sie früher weg. Nur möglicherweise hätten sie eine weitaus höhere Lebensqualität wenn sie besser ernährt wären und sie würden auch nicht so viel kosten, weil Mangelernährung krank macht. Da gibts viele Beispiele. Die Krebspatienten. Mehr als die Hälfte der Krebspatienten sterben nicht am Krebs, sondern am verhungern, weil sie nicht wissen: Der Krebs selber führt oft zu einem sogenannten Hypermetabolismus und verbraucht die Susbtanz, wenn sie nicht erneuert wird, d.h. wenn nicht ausreichend Nahrung aufgenommen wird, was im Zuge der Behandlung oft nicht möglich ist. Wenn ich jetzt wüsste, ich hab ne Krebserkrankung, dann würd ich das Doppelte von dem essen, was ich sonst gegessen habe. Richtig in die Vollen gehen. Einfach sagen: Speichern! Ein einfaches Prinzip, dann habe ich mehr wenn ich es brauche.

Diese Ernährungswissenschaft, die wir betreiben, die brauchen wir nicht in dem Ausmass. Wenn wir überlegen, wir haben in Deutschland nicht einen einzigen Lehrstuhl, der sich mit Ernährung in Entwicklungsländern befasst. Nicht einen einzigen. Wir hatten einen in Giessen. Da sass ein Tropenmediziner drauf. Der geht jetzt in Ruhestand. Der Lehrstuhl wird abgeschafft. Wir haben keine Forschung auf dem Gebiet. Weil – wie eine Kollegin sagte – „das hat keinen Impact“. „Impact“ heisst: welcher junge Mensch will zum Thema Hunger forschen – es sei denn, er macht das molekularbiologisch, was keinen wirklichen Sinn macht – wenn er damit nicht habilitieren und keine Karriere machen kann. Wenn ich vor dreissig Jahren, als ich habilitierte, mich mit den Fragen beschäftigt hätte, mit denen ich heute mich beschäftigte, wäre ich im Leben nicht so weit gekommen, wie ich gekommen bin. Das bringt keinen, wie man schön sagt, wissenschaftlichen Impact. Es hat einen humanen Impact. Nur: Das interessiert uns nicht. Die Wissenschaft hat sich bei uns in einer Form verselbständigt, wo nur noch Höchstleistungen gelten. Höchstleistungen definieren sich oft methodisch. Wenn ich im Kolben rühre. Ein running Gag. Wollen wir ein Kürbissüppchen essen?“

Transkribiert und bearbeitet von Indiana Jones

Auf Kohlleinwand wird gezeigt: Das grosse Fressen. Auf dem Laptop wird gezeigt: „Es werde Licht“. Bei „Es werde Licht“ werden Menschen portraitiert, die behaupten, ohne physische Nahrungsaufnahme überleben zu können. Der Dok-Filmer reist um die ganze Welt und trifft Nicht-Esser in Basel, Australien, China, Indien, Russland, Österreich. Der Alpen-Yogi kommt zu Wort, der Diät-Arzt (Hauptmerkmal: Überlegenes Lächeln), der von den Göttern geküsste Inder, der weise Chinese, die reiche Esorine (sie isst nichts, und verdient sich damit eine goldene Nase), die lichtfressende Russin mit den Speckröllchen, der tennisspielende Sucher, der sich freiwillig in Untersuchung begibt, und nicht zuletzt der amerikanische Quantenwissenschaftler, bei dem sowieso jedem die Argumente ausgehen, weil er empirisch nachweisen kann, dass die Welt nicht ist, was sie scheint. Der ganze Film ist in seiner Argumentation so manipulativ, dass man keine Ahnung hat, was man davon halten soll. B hat eine klare Meinung: Die Protagonisten des Films sind entweder Betrüger oder Psychotiker. Den einen Fall kennt er aus eigener Anschauung und weiss, welche Informationen der Film unterschlägt: Etwa, dass die betroffene Person im Laborversuch ein Kilogramm pro Tag abgenommen hat – was genau dem erwarteten Wert entsprach, und auch, dass die Person sich weigerte, dass der Wissenschaftler dessen Wohnung untersucht (Auf der Suche nach Hochleistungsnahrungsriegeln), sowie sich weigerte, dass auch seine Frau untersucht wird. B´s Verdikt: „Das ist eine psychotische Abhängigkeitsbeziehung. Sie füttert ihn nachts. Wahrscheinlich weiss er das nicht, und es ist nicht einmal sicher, ob sie das weiss. „. Zu Wort kommen auch Menschen, die versucht haben, sich von Licht zu ernähren, und den Versuch abgebrochen haben – einer versucht es sogar live und dokumentiert alles per Videotagebuch. Nach einer Woche ohne Essen und Trinken gibt er auf. Selbstverständlich hat er es falsch angepackt und ist selber schuld. Die grosse Gurunesin der Ernährungslosigkeit liess sich im Krankenhaus tagelang unter die Lupe nehmen. Nach wenigen Tagen ohne Essen wurde der Versuch (gegen ihren Willen) wegen Gefährdung des Lebens abgebrochen. Die sympathische Chinesin, die alles mit Chi und weiteren Kräften erklärt, wirkt noch am glaubhaftesten. Ist das wirklich der Weg, dem Problem des Materialismus zu entkommen? Warum verbreiten die Lichternährer ihre Lehre nicht in hungerleidenden Gesellschaften? Europa hat wohl genau den richtigen Hunger: Den Metaphysischen. Und man weiss nicht, ob lichtessende Chinesen einem chinesischen Kamerateam  dasselbe erzählen würde, und was der indische Arzt seinen indischen Kollegen sagt. Der Inder, der seit 60 Jahren nichts isst, wer mag er sein? Die vier Freunde, die sich in „Das grosse Fressen“ zu Tode essen, sind gegen das Gruselkabinett der Lichternährer direkt zum Knuddeln. Ach Metaphysik! Sähe sie nur so aus, wie ich mir wünschte, mit weisen Lehrern und einfachen Regeln. Der Exzess, sich zu Tode zu fressen, ist nicht weit von dem anderen Exzess, sich zu Tode zu hungern entfernt. Der Wunsch, die Selbstkontrolle zu verlieren, der Wunsch, die totale Kontrolle zu übernehmen.

Ach Leben

Wärs Du nur so, wie ich dächte

Könnte ich Dich, ach, in die Hand nehmen, streicheln, hervorzaubern und wegsperren wie mir beliebte

Ach

Leben

Könnte ich Dich nach meinem Bilde formen

Ausschliessen, was nicht reinpasste

Einschliessen, was reinmüsste

Und müsste ich nicht

Schritt für Schritt

Mühsam

Immer wieder neu dich

durch Abenteuer

Luftsprünge

Seitenhiebe

Faustschläge

Niederlagen

Tauchgänge

Klettereien

Handschlägen

Blickwechsel

Neu erfahren

Ach, ich hätte mich längst mit Dir auf eine Wiese gelegt

Die  Monate

froh

durchschlafen.

(Indiana Jones)

AL 31.1.2014

L macht einen Selbstversuch: Containern. Eine Freundin sagt ihm wo und wann. L schläft vor und schaut beim Einschlafen „Das grosse Fressen“. Vier Typen bringen sich mit Essen um. Das ist selbst den Nutten zu doof, die sie dazubestellt haben: Sie lassen die Herren alleine sterben. Nur die Kindergärtnerin bleibt, und begleitet fürsorglich alle in den Tod. Der Film ist bekannt und natürlich ein widerlicher Genuss. Die Männer geben den Frauen gern Befehle. Die Frassvilla ist wunderschön, nostalgiegesättigt, morbid. Die Metapher des Films kann, vierzig Jahre nach seiner Premiere, etwas abgegriffen erscheinen. L´s Lebensstil ist Teil einer rasenden Todesfahrt. Eine Überraschung ist das nicht mehr. Dabei gibt L sich so Mühe, zumindest ein paar Hebel, die er erreichen kann, umzulegen. Viele Menschen versuchen das. Wie schauen Überlebende in hundert Jahren auf diesen lächerlichen Tanz?  Die Theaterumsetzung an der Volksbühne 2006 hat L verpasst. Was dabei in einer Theaterkritik angemerkt wird: „Es ist ziemlich sicher, dass die Spieler auf der Bühne – eine kräftige Portion Exhibitionismus vorausgesetzt – beim fröhlichen Herummantschen der höchstmöglichen irdischen Glückseligkeit ziemlich nahe kommen. Hier zeigt sich, dass „Das Große Fressen“ Dekadenz, Lebensüberdruss oder gar Depression nicht abbildet, sondern unterläuft. Der Abend bietet in seiner unkomplizierten Anschaulichkeit dem Zuschauer die Möglichkeit, seine Neidgefühle gegenüber den enthemmten Spielern zu entdecken, sie sich einzugestehen und so mit Fantasien in Kontakt zu kommen, die möglicherweise unreinlich und triebhaft sind, dabei aber von urwüchsiger Lebenslust zeugen. Beim Film war das nicht anders.“ Also: Fressen, sich im Essen wälzen, kann auch, ganz simpel, Vergnügen sein.
Containern. Um halb eins steht L auf, zieht sich an. Müde. Soll er nicht ein Taxi rufen? Dann wäre das Ganze schnell vollbracht. Er sucht Taxinummern. Dann geht er raus in die Nacht und holt sich ein DB-Fahrrad. Er sucht den Supermarkt, der ihm angegeben wurde. Eine halbstündige Fahrt. Erster Impuls, als er vergitterte Container sieht: „Das kann ich nicht“. Eine viertel Stunde kurvt er um das Gebiet. Gibt es Wachleute? Polizei? Er nähert sich den Containern. Eine Gittertür ist offen. Irgendwann steht ist er drin. Findet aber nichts. Nur echten, dreckigen Müll. Wahrscheinlich waren andere schneller. Er geht herum, schaut in verschiedene Container. Nur Müll, Müll, Müll. Er fährt nach Hause und schaut unterwegs noch bei anderen Supermärkte vorbei. Die meisten sichern ihren Müll mit riesigen Vorhängeschlössern und Metallrollos.
L kommt sich in dieser zweistündigen Nachtfahrt wie ein Krimineller vor. Wer Müll essen will, bewegt sich zumindest in einer rechtlichen Grauzone. Indiana Jones an die Supermärkte: Stellt Euren essbaren Müll tagsüber raus. Wer Müll frisst, ist keine Ratte und möchte nachts, wie jeder, schlafen.